Vor- und Nachteile von Geschirr und Halsband

Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden Geschirre bei Hunden nur zum Ziehen von verschiedenen Lasten verwendet. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat sich jedoch das Geschirr auch zum Führen von „normalen“ Familienhunden in großem Stil durchgesetzt. Zum Teil haben sich zwei Lager gebildet. Jene Menschen, die auf die Verwendung eines Geschirres schwören und jene, die nach wie vor vom Halsband überzeugt sind.

Ich persönlich bevorzuge eine ganz nüchterne Betrachtungsweise. Ein Hund, der (fast) nie an der Leine laufen muss und/oder kaum jemals an der Leine zieht, benötigt kein Geschirr. Für alle Hunde aber, die (noch) nicht gut leinenführig sind oder Hunde, die ängstlich oder unsicher sind, ist ein gutes Führgeschirr praktisch unverzichtbar. Das gilt ebenso für „schwierige“ Hunde, die Probleme mit der Kommunkation zum Beispiel mit Artgenossen oder Menschen haben. Auch für sie kann es einen großen Unterschied machen, ob sie am Geschirr oder Halsband ausgeführt werden. Welpen und Junghunde reagieren mitunter sehr impulsiv, auch wenn sie in vielen Situationen schon eine gute Leinenführigkeit zeigen. Auch für sie ist daher in jedem Fall ein gut sitzendes Führgeschirr empfehlenswert.

© Christine Hechtl, www.cibuscanis.bayern

Welcher Hund ging wohl entspannter aus der am Foto eingefangenen Situation? Welpen, junge oder schreckhafte Hunde reagieren an der Leine manchmal impulsiv. Besonders wenn sich kurz nach dem Umzug aus dem Tierheim auch das Leinenhandling mit dem neu eingezogenen Hund noch nicht ganz eingespielt hat, kann ein gut sitzendes Geschirr derartige Schreckmomente, Schmerzen oder vielleicht sogar dauerhafte Schäden an der Wirbelsäule verhindern. Bei sensiblen Hunden reicht im dümmsten Fall ein einziges Erlebnis wie am Foto dargestellt aus um zu einer unbeabsichtigten Verknüpfung und/oder Generalisierung zu führen, sodass sie (bestimmte) Hunde, Menschen oder Orte in Zukunft meiden oder aggressiv darauf reagieren.

Im Folgenden sollen die Vor- und Nachteile von Geschirr und Halsband zusammengefasst werden. Diese Punkte betreffen natürlich alle Hunde, nicht nur jene aus dem Tierschutz. Jedoch spielen sie für Tierschutzhunde häufig eine besonders wichtige Rolle. Das richtige Equipment beeinflusst nämlich massiv das Wohlbefinden unserer Schützlinge, und Tierschutzhunde mit Vorgeschichte reagieren häufig besonders sensibel auf äußere Einflüsse.

Vorteile eines Geschirrs

  • Wenn Zug auf die Leine kommt, ist das Tragen eines Halsbandes meist deutlich unangenehmer als das Tragen eines Geschirrs.Bessere Verteilung der Belastung:
    Sowohl für Hunde, die noch nicht gut leinenführig sind, als auch für Hunde, die aufgrund von Reaktivität oder Angst hin und wieder ins Leinenende springen oder den Rückwärtsgang an der Leine einlegen, bietet das Tragen eines Geschirrs immense Vorteile gegenüber dem Tragen eines Halsbandes. Mit einem Geschirr entsteht bei Zug an der Leine am Hundekörper eine geringere Druckbelastung pro Flächeneinheit. Außerdem lässt ein Geschirr den empfindlichen Kehlkopfbereich Ihres Hundes frei.

  • Geringere Gefahr von unbeabsichtigten Fehlverknüpfungen:
    Wenn ein Hund sich in ein Halsband stemmt, weil er zum Beispiel unbedingt zu einem Artgenossen oder einem Menschen hinlaufen möchte, erhält er jedesmal starken Druck im Halsbereich, der unangenehm bis schmerzhaft sein kann und dem Hund zusätzlich die Luft abschnürt. Keine angenehme Empfindung für Ihren Vierbeiner! Abgesehen von der Belastung für die Halswirbelsäule und den restlichen Halsbereich, kann es zusätzlich passieren, dass Ihr Hund das unangenehme Gefühl mit dem Auftauchen des Artgenossen oder Menschen (oder eines sonstigen Reizes) verbindet. Denn jedes Mal, wenn er zum Beispiel einen anderen Hund sieht und zu diesem hin laufen möchte, entsteht der Zug an der Leine und somit das schmerzhafte Gefühl im Halsbereich. Für den Hund kann es daher so erscheinen, als wäre das Auftauchen des Artgenossen der Grund für sein eigenes Unwohlsein. Dadurch besteht die Gefahr, dass selbst freundlich eingestellte Hunde mit der Zeit an der Leine nicht mehr freundlich reagieren. Bei unsicheren Hunden, die entweder im Rückwärtsgang ins Leinenende flüchten oder sich nach vorne weg verteidigen, kann ebenso die Unsicherheit durch den Schmerzreiz im Halsbereich noch verstärkt werden.
    051-17Natürlich ist es für einen Hund auch nicht besonders angenehm, sich mit voller Kraft in die Gurte eines Geschirrs zu stemmen. Doch wie in Punkt eins schon erwähnt, ist die Druckverteilung im Geschirr besser und hilft somit, das unangenehme Gefühl stark zu reduzieren. Auch die Luftzufuhr wird bei Zug an der Leine bei weitem nicht so stark eingeschränkt wie bei einem Halsband. Die Gefahr von falschen Verknüpfungen wird durch die Verwendung eines Geschirrs minimiert.
  • Geringere Beeinflussung der Körpersprache:
    Hunde kommunizieren intensiv über Mimik und körpersprachliche Signale, sowohl mit Artgenossen als auch mit dem Menschen (als Menschen übersehen wir allerdings leider häufig sehr viel). Die Körpersprache des Vorderkörpers (z.B. Abwenden oder Senken des Kopfes, bewusst eingesetztes Schnüffeln am Boden), kann von Hunden jedoch nur dann ungestört eingesetzt werden, wenn der vordere Körperbereich freien Spielraum hat. Wenn ein Hund an kurzer Leine an einem Halsband gehalten wird (zum Beispiel damit sein Kopf aufDSC_8980. Kniehöhe des Halters bleibt), ist es ihm in vielen Fällen gar nicht möglich, diese Signale zu zeigen. Noch schlimmer ist es, wenn zusätzlich Zug auf die Leine kommt und der Halsbereich und somit die Luftzufuhr des Hundes eingeschränkt wird. Ein röchelnder Hund wird seine Gesichtsmimik nur begrenzt für die arteigene Kommunikation einsetzen können. Die Problematik der eingeschränkten Kommunikation wird durch die Verwendung eines Geschirrs weitgehend minimiert. Dies ist besonders für Hunde wichtig, die beim Aufeinandertreffen mit Artgenossen Probleme haben. Eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten können in solchen Fällen die Problematik noch verschlimmern.
  • Weniger (un)beabsichtigtes Rucken:
    Wir Menschen fuchteln wir manchmal nur zu gerne mit unseren Armen herum. Der Hund schnüffelt an halb verschimmeltem, weggeworfenen Essen am Gehsteig? Der Hund versucht Wildtierkot zu fressen? Der Hund will aus einer grässlich aussehenden Pfütze Wasser trinken? Der Hund, der keine fremden Menschen mag, soll im engen Treppenhaus an einer Person vorbei, obwohl er sich eh schon so aufregt? Bevor wir überhaupt vernünftig darüber nachdenken, wie wir unseren Hund aus solchen Situationen zu uns holen könnten, ist vom Gehirn schon längst der Impuls an den Arm gesendet worden, einfach mal an der Leine zu ziehen oder zu rucken. Das passiert oft nicht mit böser Absicht, sondern schlicht aus einem Automatismus heraus.
    IMG_8528Für den Hund ist das Rucken an der Leine um ihn zu bestrafen und/oder von gewissen Dingen abzuhalten jedoch äußerst unangenehm und meistens auch ziemlich unverständlich. Es ist ein sehr plötzlich und ohne Vorwarnung auftretender Reiz, bei dem der Hund zumeist gar nicht zuordnen kann, warum er ihn genau in dieser Sekunde erhalten hat. Dadurch ist der Lerneffekt durch einen Ruck an der Leine auch kaum bis gar nicht vorhanden. Oder sagen wir besser, der Hund versteht meistens nicht, was er eigentlich falsch gemacht haben soll. Und noch schlimmer, er lernt, dass seine Bezugsperson manchmal ziemlich unberechenbar ist und er dem nur entgehen kann, wenn er ohne Eigeninitiative neben seinem Menschen her trottet. Bestimmt ist das aber nicht die Art der Kommunikation mit Ihrem Hund, die Sie sich wünschen, oder?
    Ein Geschirr kann Abhilfe schaffen. Besonders für Menschen die bisher ihre Hunde immer am Halsband ausgeführt haben, kann allein der Wechsel zur Verwendung eines Geschirrs schon helfen, alte Gewohnheiten zu durchbrechen. Etablierte Automatismen können sich deutlich reduzieren bis ganz weg fallen. Statt den Hund mit Krafteinwirkung mit sich zu ziehen fällt es leichter, sich auf Alternativen zu besinnen, wie zum Beispiel die Verwendung eines gut aufgebauten Nachfolgesignals.
    Mit dem Hund im Geschirr hat man außerdem weniger direkten Einfluss auf den Halsbereich des Hundes und wo sich der Kopf des Hundes konkret hinwenden kann – die Einflussnahme über einen Leinenruck wird geringer.
    Dadurch, dass also für Hunde meist ziemlich unangenehme Ziehen oder Rucken an der Leine insgesamt am Geschirr weniger effektiv als Verhaltensabbruch eingesetzt werden kann als am Halsband, wird es normalerweise auch weniger oft zum Einsatz kommen. In dieser Hinsicht lernen wir Menschen auf gleiche Weise wie Hunde.
  • Automatische Verbesserung der Leinenführigkeit bei Leinenzerrern:
    DSC_7000-1Dies trifft freilich nicht auf alle Hunde zu, kann aber in Einzelfällen vorkommen. Hunde, die bisher ausschließlich am Halsband ausgeführt wurden und sich dabei schon das Ziehen an der Leine angewöhnt haben, gehen manchmal durch den Wechsel des Equipments viel besser an lockerer Leine. Eventuell kann also ein Wechsel vom Halsband zum Geschirr helfen, alte Gewohnheiten zu durchbrechen (beachten Sie zusätzlich, dass in manchen Fällen auch gesundheitliche Gründe für das bessere Laufen am Geschirr verantwortlich sein können). Jedoch wird bei solchen Hunden dennoch Training zur Leinenführigkeit nötig sein, um am Geschirr nicht bald wieder beim Leinenzerren anzukommen. Trotzdem kann der Wechsel der Ausstattung eine bessere Ausgangsposition für das Training liefern und somit zu schnellerem Erfolg führen.
  • Sicherheit:
    Muss man den Hund (in Bewegung) schnell fassen, um ihn in einer Notsituation knapp bei sich zu halten oder vor einer Gefahr zurück zu holen, ist es meist leichter den Rückensteg eines Geschirres zu erwischen als ein Halsband, vor allem bei kleinen Hunden, Hunden die am Hals viel Fell haben oder sehr wendigen Hunden.

  • Spezialgeschirre:
    Im Bereich des Geschirrsortiments gibt es viele Spezialformen für bestimmte Anlässe. Zum Beispiel Stütz- und Tragegeschirre für alte oder kranke Hunde, Sicherheitsgeschirre für unsichere und ängstliche Hunde und viele mehr.

    Nachteile eines Geschirrs

  • schlechter Sitz:
    IMG_2596Sehr häufig werden Hunde an Geschirren ausgeführt, die schlecht sitzen. Sei es, weil die Bauchgurte zu weit vorne oder hinten verlaufen, die Halsung zu weit oder zu eng ist, oder die Geschirrform an sich fragwürdig ist. Es ist sehr wichtig, dass Hunde wirklich gute, korrekt angepasste Geschirre tragen. Nur so werden sie nicht in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt und nur so können die vielen Vorteile des Tragen eines Geschirrs erst greifen. Mehr zum richtigen Sitz und empfehlenswerten Produkten erfahren Sie in Kürze im nächsten Teil der Serie „Geschirr und Halsband“.
  • Verweigerung des Hundes/Unvereinbarkeit mit gesundheitlichen Problemen:
    Manche Hunde (wir sprechen hier eher von einzelnen Ausnahmefällen) möchten absolut kein Geschirr tragen. Häufig hängt das mit gesundheitlichen Problemen zusammen, wie zum Beispiel Beschwerden im Bewegungsapparat oder Vorkommen von Geschwüren unter der Haut. Durch das Geschirr können in solchen Fällen eventuell an Körperstellen, wo der Hund besonders sensibel ist, Abriebstellen oder Druckpunkte entstehen.  Manchmal ist es möglich, durch die Wahl einer besseren Geschirrform das Problem zu umgehen. In Einzelfällen kann es aber durchaus so sein, dass ein Halsband die bessere Wahl ist,
    Bei Hunden, die keine offensichtlichen gesundheitlichen Probleme haben (dies sollte unbedingt beim Tierarzt abgeklärt werden) gibt es ebenso einige Kandidaten, die aus irgendeinem Grund wirklich kein Geschirr tragen möchten, auch dann nicht, wenn man wirklich lange Zeit versucht, sie daran zu gewöhnen. Manchmal hilft es auch hier, verschiedene Geschirrformen zu testen. In einzelnen Fällen wird es aber nötig sein, zum Wohlbefinden des Hundes tatsächlich auf ein Geschirr zu verzichten.
    (Hinweis: Sehr häufig empfinden Hunde das Anziehen des Geschirrs als unangenehm und verweigern deswegen das Geschirr. Dies hat also nichts mit der oben beschriebenen Ablehnung des Geschirrs an sich zu tun.
  • verringerte Kontrolle:
    Bei sehr großen und starken Hunden ist es manchmal einfacher, den Hund in einer Notsituation am Halsband zu fixieren und so von einer weiteren Vorwärtsbewegung abzuhalten. Der Hund hat so weniger Bewegungsfreiheit und weniger Chanchen sein Gewicht einzusetzen und den Menschen wohlmöglich umzureißen. Allerdings spricht auch bei solchen Hunden nichts dagegen, sie am Geschirr auszuführen, wann immer es die Umstände erlauben. Man kann zusätzlich zum Geschirr ein Halsband umlegen, um den Hund in Notsituationen besser managen zu können.

    Vorteile eines Halsbands

  • Geringere Beeinflussung des Bewegungsablaufs:
    xxx

    Wenn Halsband, dann richtig: ein breites Zugstopphalsband mit Neoprenpolsterung und Reflektorstreifen für einen Hund, der überwiegend im Fraulauf unterwegs ist.

    Da ein Halsband überhaupt nicht am Schulterbereich aufliegt, beeinflusst es (bei lockerer Leine) den Bewegungsablauf des Hundes natürlich in keiner Weise. Ein gut sitzendes Geschirr sollte dies jedoch auch leisten.
    Für Hunde, die überwiegend frei laufen dürfen und sehr gut an lockerer Leine laufen, ist ein Halsband im Alltag oft praktikabler. Die allermeisten Tierschutzhunde betrifft dies vor allem in der Eingewöhnungszeit jedoch nicht, da sie ohnehin überwiegend angeleint ausgeführt werden müssen und ihr Verhalten anfangs schlicht und einfach noch nicht in allen Situationen gut vorhersehbar ist.

  • Bessere Akzeptanz:
    Wie weiter oben bereits erwähnt, gibt es manchmal Hunde, die sich vehement und auch dauerhaft gegen das Tragen eines Geschirres wehren. Spezifische gesundheitliche Probleme können dafür verantwortlich sein. Manchmal scheitern jedoch auch ohne gesundheitlichen Gründe alle Versuche, das Tragen des Geschirrs positiv zu belegen. In all diesen Fällen kann selbstverständlich zum Wohle des Hundes auf ein Halsband zurückgegriffen werden. Wichtig ist dann, besonderes Augenmerk auf eine gute Leinenführigkeit des Hundes zu legen. Außerdem sollte ein gepolstertes und möglichst breites Halsband verwendet werden.
  • Zusatzsicherung:
    Vor allem bei ängstlichen Hunden kann ein Zugstopphalsband oder eng anliegendes anderes Halsband zur zusätzlichen Absicherung des Hundes verwendet werden. So ist der Hund doppelt gesichert (nämlich durch eine Leine am Geschirr und zusätzlich eine Leine am Halsband, oder zumindest einer Koppelung von Geschirr und Halsband) und kann im Notfall weniger leicht entwischen und flüchten.

    Nachteile eines Halsbands

  • Schlechte Produkte:
    Neben den vielen bereits angesprochenen Nachteilen wie der möglichen großen Druckbelastung im empfindlichen Halsbereich mit negativen Folgen für den Hund, Gefahr von Fehlverknüpfungen, Beeinflussung der Körpersprache und der größeren Gefahr von (un)bewusstem Rucken oder Ziehen an der Leine zur Verhaltenskorrektur,  werden auch im Halsbandsortiment viele Produkte angeboten, die dem Wohl von Hunden schaden oder zumindest potenziell schaden können. Während einige dieser Produkte offiziell verboten sind, wie Elektro- oder Stachelhalsbänder, gibt es auch unter den legalen Produkten viele, die Hunden Unbehagen oder sogar starken Schmerz zufügen können.

    Für den frisch adoptierten, lebendigen Junghund aus dem Tierheim ist das Führen an diesem schmalen Halsband nicht optimal.

    Für diesen sehr lebendigen Junghund aus dem Tierheim ist das Führen an dem sehr schmalen Halsband nicht optimal.

    Würgehalsbänder, Kettenhalsbänder oder sehr schmale Halsbänder zum Beispiel sollten überhaupt nicht verwendet werden, schon gar nicht für den frisch adoptierten Tierschutzhund! Empfehlenswert ist ein möglichst breites Halsband mit Polsterung, sodass der Druck im Halsbereich so gut als möglich abgepuffert wird, auch wenn einmal Zug auf die Leine kommen sollte. Für Hunde, die an der Leine noch unberechenbar reagieren können oder nicht immer an lockerer Leine laufen, ist die Verwendung eines Halsbands überhaupt nicht anzuraten.