Die Grundproblematik: Leinenführigkeit

Wie bereits im Artikel „Leine und Schleppleine“ erwähnt wurde, müssen die meisten Hunde zumindest in der Zeit kurz nach der Adoption aus dem Tierheim mit einer Leine abgesichert werden. Bevor es hier genauer um die Vor- und Nachteile von Halsband und Geschirr gehen wird, möchte ich zunächst das Thema Leinenführigkeit bei Tierheimhunden ansprechen, aufgrund dessen die „Halsband oder Geschirr“ Frage unter anderem erst interessant wird. Dieses Kapitel soll all jenen, die einen Hund aus dem Tierheim mit nach Hause gebracht haben, der mit der Leinenführigkeit noch Probleme hat, helfen Ihren Hund besser zu verstehen.

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Viele Tierheimhunde brauchen „Auffrischung“ bei der Leinenführigkeit.

Während es Hunde gibt, die auch nach langer Aufenthaltszeit im TIerheim immer noch absolut vorbildlich an lockerer Leine laufen, kommt es durchaus häufig vor, dass Hunde aus Tierheimen kleine oder größere „Defizite“ mitbringen was ihre Leinenführigkeit angeht. Dies kann unterschiedliche Gründe haben. Oft spielen mehrere Aspekte gemeinsam eine Rolle.

Aufregung und Stress sind die Hauptkomponenten, die bei Tierheimhunden das Zerren an der Leine hervorrufen können und es in Folge manchmal zu einer Gewohnheit werden lassen. Aufregung und Stress erleben die meisten Hunde im Tierheimalltag täglich, vor allem Hunde, die in großen Tierheimen untergebracht sind. Aber auch nach der Vermittlung sind Hunde oft noch Tage bis Wochen sehr aufgeregt und es fällt ihnen schwer, entspannt an der Leine zu gehen.

Das Zerren an der Leine durch Stress entsteht durch zwei Aspekte des Tierheimlebens. Zunächst ist das eingesperrt sein in einem Zwinger oder Gruppenauslauf an sich für die meisten Hunde großer Stress. Natürlich wird nicht jeder Hund gleich intensiv auf diese Lebenssituation reagieren. Außerdem haben auch die räumlichen und strukturellen Gegebenheiten in jedem individuellen Tierheim einen großen Einfluss. Im Schnitt aber fehlt es Tierheimhunden an Ruhe, Anschluss an den Menschen, Platz und vielem mehr.  Dies hat bei vielen Hunden eine gewisse „Grunderregung“ zur Folge, wodurch sie in ihrem Verhalten hektischer wirken, sich schlechter konzentrieren und zurücknehmen können. Das bedeutet unter anderem auch, dass sie auf bestimmte Reize in der Umwelt intensiver reagieren, als sie es sonst tun würden. So wird sogar ein Hund, der an und für sich gut an lockerer Leine mit dem Menschen mitlaufen kann, in diesem Zustand trotzdem öfter mal nach vorne oder hinten ins Leinenende preschen, obwohl er das in einem entspannteren Zustand nicht tun würde.

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An lockerer Leine für ein Foto posieren? Für Hunde, die der Tierheimalltag sehr stresst, alles andere als leicht.

Zusätzlich ist das Ziehen an der Leine aufgrund von Stress meist auch eine Folge des angeleint seins an sich. Der Bewegungsablauf wird durch die Leine eingeschränkt und in stressigen Situationen, in denen der Hund ohne Leine andere Verhaltensweisen zeigen würde um mit der Situation umzugehen, bleibt ihm an der Leine nur ein sehr begrenzter Handlungsspielraum. Er setzt seine Aufregung so um, wie es ihm angeleint möglich ist, und das ist oft ausschließlich ein Stemmen in die Leine oder auch ein Kreiseln rund um den Menschen. Stressmomente an der Leine entstehen im Tierheimalltag insgesamt meist in höherer Frequenz und Intensität als außerhalb des Tierheims.
Stellen Sie sich zum Beispiel einen Hund vor, der im Tierheim täglich auf dem Weg zu seinem Auslaufplatz an den Zwingern von anderen Hunden vorbei geführt werden muss. Selbst wenn der Hund die anderen Hunde nicht sehen kann, wird er sie riechen und ihr Gebell hören.  Er wird vielleicht auch anderen Hunden begegnen die ausgeführt werden und ebenso aufgeregt sind wie er – ein Spaziergang ist immerhin das Highlight im Tierheimalltag. In genau solchen Situationen setzen viele Tierheimhunde ihre Aufregung mit Zug nach vorne um – das Zerren an der Leine wird gewissermaßen zu einem „Auswegverhalten“, da andere Verhaltensweisen nicht gezeigt werden können.

Manchmal kann es eben nicht schnell genug gehen. Tierheimhunde, die im Zwinger oder Auslauf leben, sind auf Spaziergängen natürlich voller Tatendrang.

Manchmal kann es gar nicht schnell genug gehen. Tierheimhunde, die im Zwinger oder Auslauf leben, sind auf Spaziergängen natürlich voller Tatendrang.

Hunde im Tierheim leiden sehr oft an Bewegungsmangel, ganz besonders die jüngeren und agileren Exemplare.  Hunde, die in Einzelzwingern gehalten werden, kommen vor allem in größeren Tierheimen meist nicht täglich aus dem Zwinger. Im schlimmsten Fall gar nie. Bei Hunden, die in größeren Ausläufen in Gruppen gehalten werden, läuft es meist ähnlich. Hier haben die Hunde zwar etwas mehr Raum der ihnen ständig zur Verfügung steht, dafür gesteht man ihnen aber vielleicht weniger Ausgänge außerhalb des Auslaufbereichs zu. Grundsätzlich variieren die Verhältnisse von Tierheim zu Tierheim sehr stark. Die meisten (großen) heimischen Tierheime haben heutzutage Programme, die Bewegung und Beschäftigung von Hunden unterstützen sollen, wie Patenschaftsprogramme. Trotz solcher Bemühungen ist es aus verschiedendsten Gründen in Tierheimen nahezu unmöglich, jedem Hund das Maß an Bewegung zukommen zu lassen, das er eigentlich benötigen würde.
Mangelnder Auslauf und damit gleichzeitig auch mangelnde geistige Stimulation durch die Sinnenseindrücke, die die Umwelt liefert, sind daher ebenso Gründe, warum viele Hunde im Tierheim nach und nach immer mehr an der Leine ziehen. Geht es endlich raus, so strotzt der Hund vor Energie und Tatendrang. Da fällt es schwer, noch an die lockere Leine zu denken, das Erkunden der Umgebung steht für den Hund im Vordergrund. Es kann gar nicht schnell genug von Grasbüschel zu Grasbüschel gelaufen werden, und notfalls wird der Mensch eben hinterhergezogen.

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Wenn ein Welpe an der Leine zieht, stört es viele Menschen aufgrund des geringen Gewichts kaum. Doch lieber sollte man von klein auf das Gehen an lockerer Leine fördern – bevor sich das unangenehmen Ziehen an der Leine etabliert.

Fehlendes Training ist ebenso ein Grund für Probleme mit der Leinenführigkeit. Manche Hunde, die ins Tierheim kommen – seien es junge oder schon erwachsene Hunde – haben in ihrem Leben schlicht und einfach noch nie nachhaltig das Gehen an lockerer Leine beigebracht bekommen. Woher sollen sie es also können?
Im Tierheim selbst besteht aufgrund von Zeitmangel der Mitarbeiter leider häufig nur sehr begrenzt die Möglichkeit, mit den Hunden während des Tierheimaufenthalts intensiv an der Verbesserung von Leinenführigkeit zu trainieren. Eigene Trainer, die im Tierheim angestellt sind oder ehrenamtlich arbeiten, sind auch nicht überall zur Stelle. Außerdem erschweren Stress und Bewegungsmangel im Tierheim das Training natürlich immens, da es für viele Hunde im Tierheimalltag wirklich sehr schwer ist, sich für Übungseinheiten oder gar auf Dauer zu konzentrieren.
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Auch angeleinte Hunde sollen sich wohl fühlen. Richtiges Training und richtiges Equipment helfen dabei. Einen wild zerrenden Hund am Halsband zu führen, ist ein No Go.

Nach der Vermittlung in ein neues Zuhause ist es meistens so, dass Hunde, die aus dem ein oder anderen Grund im Tierheim eher zu den Leinenzerrern gehörten, dieses Verhalten weiterhin zeigen, wenngleich manchmal auch in geringerer Intensität. Es gibt zwar auch Hunde, die außerhalb des Tierheimgeländes augenblicklich viel entspannter an der Leine gehen und bei denen sich das Ziehen an der Leine direkt nach der Vermittlung ins neue Zuhause ohne weitere Zuhilfe komplett legt, doch diese Fälle sind eher die Ausnahme als die Regel.
Einerseits dauert es einfach eine Zeit lang, bis das Aufregungslevel im neuen Zuhause langsam sinkt, der Hund ruhiger wird und klarer denkt und weniger von Emotionen gesteuert wird. So lange bis dieser Punkt allmählich erreicht ist, wird er durchaus die gleichen Verhaltensweisen zeigen wie im Tierheim, die für ihn eventuell schon lange schon zur Gewohnheit und Bewältigungsstrategie für schwierige Situationen wurden.
Andererseits ist das Ziehen an der Leine schlicht und einfach ein Verhalten, das sich schnell verstärkt. Ein Hund der einmal gelernt hat, dass er schneller an sein gewünschtes Ziel kommt, wenn er sich in die Leine stemmt, wird dieses Verhalten beibehalten.
Aus diesen Gründen, nämlich dass sich das Ziehen an der Leine für Ihren Hund vielleicht schon ganz normal anfühlt, ist es wichtig, mit dem Hund möglichst bald das Gehen an lockerer Leine wieder neu einzuüben. Denn seien wir ehrlich, Gezerre an der Leine ist niemals optimal, ganz egal ob der Hund an einem Geschirr oder einem Halsband geführt wird. Solange Sie sich mit Ihrem Hund noch in der Übungsphase befinden, ist jedoch in jedem Fall eine Verwendung eines Geschirrs gegenüber eines Halsbands vorzuziehen. Wichtig ist allerdings, dass das Geschirr auch wirklich für Ihren Hund geeignet ist.

Dazu mehr im nächsten Teil über die Vor- und Nachteile von Geschirren und Halsbändern.